Zur Aktualität von Sozialer Verteidigung

Barbara Müller / Christine Schweitzer

Zur Aktualität von Sozialer Verteidigung.
Dokumentation eines Workshops von IFGK und BSV vom 15.-16. April 2005


Arbeitspapier Nr. 20, 2006, ca. 150 Seiten

IFGK und Bund für Soziale Verteidigung (BSV) wollten mit dem Workshop in Erfahrung bringen, ob es lohne, weiter am Thema Soziale Verteidigung - verstanden als gewaltfreie Konfliktaustragung in großräumigen, politisierten Konfliktsituationen – zu arbeiten oder ob das Konzept angesichts der weltpolitischen Veränderungen und neuen Herausforderungen als überholt anzusehen sei. Ihre Einschätzung ist: Ja, Soziale Verteidigung ist weiterhin von Aktualität. Das Konzept muss aber in einen neuen Kontext gestellt und dementsprechend weiter entwickelt werden.

Bei einem systematischen Blick auf die verschiedenen Beiträge fällt zunächst auf, dass die sechs von Barbara Müller in ihrem einleitenden konzeptionellen Beitrag beschriebenen ‚strategischen Ebenen’ recht komplett in der Diskussion reflektiert wurden. Müller hatte unterschieden: 1. Soziale Verteidigung als staatliche Praxis im Konflikt (zu finden im Beitrag von Schweitzer und Tullio), 2. Strategische Beratung im gewaltlosen Kampf um die politische Macht (zu finden in den Beiträgen von Schweitzer und Wanie), 3. Strategische Beratung im gewaltlosen Kampf um die Erringung oder Bewahrung sozialer Errungenschaften und Überleben als Zivilgesellschaft (in den Beiträgen von Ebert und Wanie), 4. Entwicklung der Fähigkeit zur gewaltlosen Austragung von Konflikten in Alltag und Gesellschaft, sowohl präventiv als auch akut (Beitrag Keunecke), 5. Entwicklung von Konzepten zur praktischen Umsetzung von Sozialer Verteidigung bzw. Inspiration für gesellschaftlichen, positiven Wandel (Beiträge Sternstein und Keunecke) und 6. Eingang in den wissenschaftstheoretischen Diskurs. Allein die sechste Ebene war nicht vertreten, was aber durch den Charakter des Workshops, der sich an AktivistInnen, nicht an wissenschaftliches Publikum richtete, ausreichend erklärt ist.

Auf diesen sechs definierten Ebenen dient die Beschäftigung mit Sozialer Verteidigung durchaus verschiedenen Zwecken; sie richtet sich an verschiedene Zielgruppen und geht von verschiedenen Fragestellungen aus. Hieraus lassen sich weitgehend die unterschiedlichen Empfehlungen oder Strategien der einzelnen Beiträge erklären. Diese wurden in der Diskussion teils komplementär, teils einander widersprechend bewertet, und dies erscheint uns primär eine Folge davon zu sein, ob einzelne Ebenen als vorrangig oder gar ausschließlich relevant für Soziale Verteidigung gesehen wurden oder nicht.

Zu den Kontroversen gehörte die Diskussion um die ‚richtige’ Umsetzungsstrategie, also ob eine ‚Einführung von oben’ oder eine ‚Einführung durch gewaltfreien Widerstand von unten’ der richtige Weg sei. Genauso gehört dazu die Begriffsdebatte um die Weite bzw. Enge des Begriffes der Sozialen Verteidigung selbst. Beide Themen waren dominant in der deutschen Diskussion in der Zeit um die Gründung des Bund für Soziale Verteidigung, ohne dass sie je in konstruktiver Weise gelöst worden wären. Auch 2005 scheint eine Kompromissfindung nicht in Sicht, wenngleich die Kontroverse mit wesentlich weniger Verve geführt wurde als vor fünfzehn Jahren. Vielleicht lag dies daran, dass in der gegenwärtigen Situation kein sozialer Akteur erkennbar ist, der in der sicherheitspolitischen Diskussion als Träger des Konzeptes eine Rolle spielen würde. Das gilt sowohl für die aktuellen EntscheidungsträgerInnen wie für Soziale Bewegungen.

Es gab aber auch neue Aspekte. Hierzu gehörte die provokante These, gerichtet an diejenigen, die über Strategien der Umsetzung nachdenken, ob überhaupt eine Einführung (egal durch welchen Träger) im deutschen bzw. europäischen Kontext eine sinnvolle Strategie sein könnte, oder ob eine solche Propagierung von Sozialer Verteidigung – wie sie etwa auch Brian Martin vorschlägt, (s. Müllers Beitrag) – gesellschaftspolitisch nicht gewünschte Folgen nach sich ziehen könnte.

Weitere neue Aspekte beziehen sich auf einen veränderten Kontext, in dem Soziale Verteidigung zu sehen ist und in dem sich konzeptionelle Arbeit lohnen würde. Dieser Kontext ist gekennzeichnet durch eine im Vergleich mit dem Ost-West-Konflikt grundlegend gewandelte Konfliktkonstellation. Er verändert Prämissen des Diskurses, in dem Soziale Verteidigung bis zum Jahr 1989 gedacht, entwickelt, propagiert und vorangetrieben wurde. So kann von einer militärischen Bedrohung der Bundesrepublik nicht mehr gesprochen werden, und es droht auch keine ideologische Fremdbestimmung mehr. Gleichwohl gehört die Wahrnehmung und Bewertung des sicherheitspolitischen Kontextes weiterhin zu einer der entscheidenden Bezugsgrößen bei der Frage nach dem Stellenwert und dem Mehrwert konzeptioneller Investitionen in das Konzept Sozialer Verteidigung.

Genau hier ist es, wo heute, in einem veränderten Koordinatensystem, Soziale Verteidigung wieder relevant werden könnte. Es gilt, die Veränderungen im Sicherheitsdenken nachzuvollziehen, die für heutige Risikoanalysen und Sicherheitsdenken Standard geworden sind. Zwei der Koordinaten sind:

1. Sicherheit international statt national zu denken;

2. den Sicherheitsbegriff umfassend („menschliche Sicherheit“) und konsequent gewaltlos zu denken anstatt auf territoriale Sicherheit zu beziehen.

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